Ich bin in Westdeutschland aufgewachsen und in 60km Entfernung der DDR war uns allen klar, daß im Falle eines „heißen Krieges“ es 1-2 Stunden dauern würde und wir wären sowjetisch bzw. russisch besetzt gewesen.
Ich habe noch Menschen kennengelernt, die in russischer Kriegsgefangenschaft waren und die deswegen „den Russen“ als böse einstuften. So hatte ich als Kind immer ein leichtes Gruseln, wenn ich an die UdSSR dachte.
Dazu kam aber auch ein gehöriger Respekt, nicht nur vom sowjetischen Militär, sondern auch von deren technischen Erungenschaften in den 1950ern und 60ern. Die Sowjetunion ließ raketentechnisch die Amerikaner erstmal hinter sich. Und bis heute fliegen im Grunde Koroljows Raketen in den Weltraum, freilich oft überarbeitet, aber grundsätzlich wurde das Setup nicht verändert. Das beeindruckt bis heute. Es waren bis vor wenigen Monaten die einzigen Raketen, die zur ISS flogen.
Das änderte sich mit Gorbatschow, der Wende 1989 und entgültig mit dem Einzug neuer Nachbarn in ein verlassenes Haus, das einige Jahre leerstand. Es kamen Übersiedler, die russisch sprachen und mein Kumpel und ich gingen mit einer Flasche Whisky rüber und tranken dort Wodka und Whisky.
Russische Übersiedler waren anfangs aber auch ein Problem. Es war wohl auch die andere Kultur, andere Einstellung gegenüber dem Staat, den Ämtern, den Menschen. Eben vieles anders. Dennoch kann man ein paar Jahrzehnte sagen, daß dieses Übersiedeln eine Erfolgsgeschichte geworden ist.
Neben den Übersiedlern habe ich auch ich sag mal „richtige Russen“ als Kollegen. Oft begabte Tüftler, die unglaublich improvisieren können, was bei einer jahrzehnte alten Beschleunigeranlage Gold wert ist. Überhaupt nehme ich Russen als Menschen wahr, die es handwerklich und tüftlerisch total draufhaben, dazu zähle ich zB auch meine Nachbarn. Einer hat sein Haus ganz selbst gebaut, einer hat es binnen 2-3 Monaten im „Urlaub“ „nur ausgebaut“, einer hat ein Haus gekauft und binnen Wochen ziemlich flottgemacht, mal eben so nach Feierabend. Und ihr habt euch alle ziemlich gut integriert, seid „Schaffer“, wie man so sagt.
Spätestens mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine scheint sich mit dem Zusammenleben bei uns aber viel verändert zu haben. Schon vorher wurde viel Kritik, mal zurecht, mal nicht, an der Regierung geübt und sich beschwert – eigentlich typisch deutsch ;). Mit dem Ukrainekrieg und ja, ich nenne es „Krieg“, gibt es allerdings auch Übergriffe auf Russen. Das darf nicht sein! Ich hoffe, daß diejenigen, die sich an Russen vergreifen, auch zur Rechenschaft gezogen werden. Mir ist dabei egal, ob sie pro- oder anti-Putin sind. Wir leben in Deutschland, das ist ein Rechtsstaat, in dem Selbstjustitz keinen Platz haben darf. PUNKT. Das zum einen.
Ich bemerke auch, daß die Nerven deswegen bei manchen blanker liegen, daß vielleicht eine gewisse Angst um deren Familien mitschwebt, wenn zB das eigene Kind in der Schule angegriffen wird. Da muß durchgegriffen werden, das geht gar nicht!
Es sind unsere Mitbürger, die sich über Jahre, bzw. Jahrzehnte bemüht haben, sich zu integrieren.
Dennoch darf und muß ich noch etwas loswerden. Ich spüre oft in Gesprächen, daß so mancher Russe (nicht alle) bzw. das ich sag mal „Putinsystem“ dem Westlichen überlegen fühlt. Da ist ein starker Mann, der einfach hart durchgreift, und somit, das stimmt, schneller bzw. handlungsfähiger ist als das in westlichen Demokratien der Fall ist. Wir sehen alle, daß jegliche Opposition in Russland über Jahre und vorallem in den letzten Wochen Stück für Stück ausgeschaltet wurde. Und damit kann der starke Mann über das russische Fernsehen seine Meinung ausstrahlen – bis hin in deutsche Wohnzimmer. Ja, für mich ist es weitgehend Propaganda und damit Lüge. Geschickt aus verschiedenen Jahren zusammengewürfelte Ausschnitte aus westlichen Nachrichten sollen sich in sich widersprechen und der, der es sich ansieht, soll glauben, daß die Ukraine voller Nazis sind, die denazifiziert werden müssen. Gleichzeitig wird aber behauptet, daß alle westlichen Medien gleichgeschaltet sind und alle nur antirussisch berichten.
Ich habe eine ukrainische Familie kennengelernt. Sie haben in einem Dorf 25km entfernt von Kramatorsk neu gebaut. Frisch alles eingerichtet. Dann kam der Krieg und sie mußten mit ihrem 10jährigen schwerbehinderten Sohn fliehen. Die sagen, daß russische Medien die Russen „zombiefizieren“. Ein russischer Kollege erklärte mir, daß das „Kosewort“ für Fernsehapparat auf russisch eben auch mit „Zombiekiste“ übersetzt werden kann. Das paßt ja an der Stelle gut zusammen.
Zurück zur Propaganda: Im Grunde ist die Argumentationskette ja folgende:
Putin ist stark, er handelt und bringt Frieden, in Russland herrscht Freiheit, weil der Westen seine Finger nicht im Spiel hat. Gleichzeitig ist der Westen aber schwach, weil viel gelabert und nicht gehandelt wird. Gleichzeitig sorgt der schwache Westen aber dafür, daß alle westlichen Medien gleichgeschaltet sind. Diese Argumentationskette halte ich für nicht konsistent.
Zur Freiheit: Du kannst dich in Deutschland hinstellen und ein Plakat machen, auf dem steht, daß in der Ukraine kein Krieg ist, sondern nur eine Militäroperation. Kannste machen, du wirst dich den Leuten stellen müssen, aber keine Polizei wird dich einsperren, schon garnicht für Jahrzehnte. In Russland wirst du für Jahrzehnte weggesperrt, wenn du ein Plakat hochhälst, auf dem steht, daß in der Ukraine ein Krieg ist und keine Militäroperation. So, und jetzt verratet mir mal, wo mehr Freiheit herrscht?
Was dagegen in der Ukraine, Moldawien, in den baltischen Staaten so abging und abgeht, das kann ich versuchsweise nur historisch erklären. Das Kernproblem ist, glaube ich, die sowjetische Geschichte vorallem unter Stalin, der dafür sorgte, Russen in den „neuen Gebieten“ anzusiedeln, wie zB Transnistrien. Aber auch die Tatsache, daß viele unter der Knute des Kreml gelitten haben. Ich nenne da zB den Holodomor und wenn es nach meinem ukrainischen Kollegen geht, auch die Katastrophe von Tschernobyl, in der Moskau befohlen haben soll, sämtliche Sicherheitsabschaltungen eben abzuschalten. Fernsehreportagen dagegen behaupten, daß es „nur“ ein Versäumnis der Baubehörden war. Ich weiß es nicht.
Kurzum: Da gibt es Staaten und Menschen in den Staaten, die einfach keinen Bock mehr auf den Kreml haben. Die verbunden damit eben auch eine gewisse Wut Russen gegenüber haben, so ähnlich, wie viele Ostdeutsche eben Russen ablehnen, weil sie unter deren Besatzung gelitten haben. Nur so kann ich mir erklären, daß es in der Ukraine, in Moldawien, etc. pp. zu Problemen mit der russischen Bevölkerung kam und politisch gesehen hat sich Kiew viel zu wenig darum gekümmert. Keine Frage. Ich habe erzählt bekommen, daß ein Cousin meines Nachbarn (Russe) von Ukrainern im Grunde gelyncht wurde – ohne, daß irgendwie gegen die Täter ermittelt wurde. Ich kann es weder verifizieren noch falsifizieren. Ich nehme mit, daß es dort Probleme gab und sicherlich auch gibt.
Aber es ist für mich außer Frage, daß die Ost-NATO-Staaten, die Putin ein Dorn im Auge sind, sich freiwillig der NATO angeschlossen haben, so wie es jetzt Finnland und Schweden tun wollen. Es ist die Angst vor einer russischen Aggression, die Angst wieder unter dem Kreml zu sein. Das wollen sie nicht und das muß man aus meiner Sicht in Russland auch einfach mal Akzeptieren. Ja, die USA weiten damit in gewisser Weise ihr Imperium aus. Aber wohl weit weniger militärisch (ja, das auch) als wirtschaftlich. Das, glaube ich, versteht man in Moskau nicht.
Achso, ich höre von russischen Medien, von Putin, immerwieder, daß der Westen militärisch aggressiv ist und Russland auslöschen möchte. Da muß ich jetzt einfach mal blöd dreinschauen. Echt jetzt? Gerade die westlichen Staaten hatten über Jahrzehnte keinen Bock auf Militärausgaben und fingen erst jetzt, mit dem Ukrainekrieg wieder an, zu beschließen, wieder aufzurüsten. Ich meine, die Bundeswehr hatte über Jahrzehnte eine verdammt teure Abrüstung, aber eben eine ABRÜSTUNG. Mit dem verbleibenden halbswegs funktionsfähigen Waffen befinden sie sich gerade in Mali und sonstwo.
Wenn Putin etwas mit seinem Krieg geschafft hat, dann, die NATO (wieder) zum Aufrüsten zu bringen, sie zusammenzubringen, und am Ende die Russische Grenze zur NATO um >1000km zu verlängern. Herzlichen Glüxpilz!
Was den Krieg in der Ukraine angeht: Ich denke nicht, daß das, was dort abgeht, irgendwie im Verhältnis dazu steht, was in der Ukraine falschgelaufen ist. Dennoch hören wir vorallem von russischen Kriegsverbrechen und die ukrainischen Verbrechen, die es auch gibt, werden eher bedeckt behandelt. Ja, im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit.
Medial ist auch klar, daß unsere Medien weitgehend antirussisch und proukrainisch berichten. Also auch nicht „fair“. Schaut man sich aber ich sag mal „ukrainische Propaganda“ an, werden Russen (nicht nur Soldaten) als „Orks“ bezeichnet, quasi als Tiere hingestellt. Menschlich verständlich aber trotzdem grundfalsch!
Militärisch sieht es für die Russen schlecht aus, denke ich. Die Ukraine bekommt Waffen vom Westen und die Russen werden allmählich zurückgedrängt werden, wie ein Militärexperte sogar im russischen Staatsfernsehen sagte.
Ich befürchte, daß es dann in prorussischen Gebieten zu Exzessen kommen wird. Von ukrainischer Seite. Ich hoffe, ich irre mich, dennoch sollten da unsere Medien dabei sein und berichten!
„Ich hoffe, daß wir trotzdem Menschen bleiben“, sagte mein Nachbar. Ein guter Satz. Ich habe inzwischen doch viel russische Kultur kennengelernt und weiß sie zu schätzen. Ich mag euch Russen! Das ist mir wichtig bei all dem zu sagen.